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Kunst der Berührung

Eine Eidechse huscht über Flechten; weiter in der Stille der majestätischen Urlandschaft nach oben. Wir klettern im Lee des Grates, der Fels ist sonnenwarm, tief unter mir quert eine Gämse das Schuttkar. Eine Reibungsplatte und dann schaue ich gegen die Sonne in den Himmel, der in dieser Höhe schwärzlich erscheint und sehe Jörn am Stand, der mich in der Sicherung hat. Ich schiele nach einem verlockenden Griff: zu weit oben. Ob das die Schlüsselstelle ist? Wo kommt jetzt der Duft von Lärchenharz her? Und dann ist er da, der Moment, wo ich einfach gar nichts mehr denke, sondern die Welt geschrumpft ist auf die paar Quadratmeter Fels um Hände und Füße: höchste Anspannung und höchstes Glück, Instant Karma, nicht von dieser Welt.

Bergsteigen; da will ich hoch: ein Urtrieb, eines der letzten Abenteuer, die heute noch möglich sind, Fels, Eis, Sonne, Wolken. Eine körperliche und seelische Herausforderung. Und eine erlernbare. Knoten, Seiltechnik, Sicherungsmittel: Handwerk, das den Horizont erweitert und Risiken kalkulierbar macht; so habe ich Jörn kennengelernt, der mir vor einigen Jahren das Klettern beibrachte.

Dieser ruhige Typ mit Nickelbrille, der sofort den richtigen Draht zu allen Menschen in seiner Umgebung fand, war das vollkommene Gegenbild zum Bergführer-Klischee des harten Nordwand-Typen (erst viel später habe ich von seinen vielen spektakulären Touren als professioneller Alpinist erfahren). Ich hatte von Anfang an das Gefühl, bei ihm mit meinen An- und Widersprüchen, Wünschen (und Ängsten) gut aufgehoben zu sein.

Längst wieder bei der Hütte, es wird kalt, sobald die Sonne untergegangen ist. "Für morgen wüsste ich eine Wahnsinnstour, aber lang. Magst du?" Ich mag. Die Bergkulissen werden grau, eine nach der anderen. Jörn erzählt von seiner kleinen Tochter. Die Tage mit ihm im Fels oder auf Tourenskiern: besondere Tage, Tage voll mit Erlebnissen, Anstrengung, Lachen, Intensität. Noch etwas: Jörn hat einen sehr präzisen Blick für jene Dimensionen des Bergsteigens, die einen Menschen berühren können: Grenzen zu überschreiten, sein Maß zwischen Zuviel und Zuwenig zu finden, bei sich selbst zu sein. Da braucht es einen wie ihn: einen, der sortieren kann, der aufmerksam, gelassen und hellwach ist.

Und irgendwann klettere ich doch noch durch den Rotturm über dem Fälensee mit ihm.

Dr. Thomas Urbach